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Mittelalterliche
Geschichtsschreibung

Ältere Lebensbeschreibung der heiligen Verena von Zurzach

Hatto (I., 891-913) war Mainzer Erzbischof und u.a. Abt des Klosters Reichenau im ostfränkischen Reich. Die von Hatto angefertigte "ältere Lebensbeschreibung der heiligen Verena" ist ein kurzer "Jungfrauenspiegel", eine Hymne auf die Jungfräulichkeit und Keuschheit von Frauen im Dienste Gottes und der Kirche. Hatto nahm dazu die heilige Verena von Zurzach als nachahmenswertes Vorbild. Verena (†ca.320 oder 350, in Zurzach) erlebte (angeblich?) die diokletianische Christenverfolgung im römischen Reich in Ägypten und am Hochrhein. Gewidmet ist die um 880 (oder nach 887?) niedergeschriebene Vita wohl der Richgardis, der Ehefrau von Kaiser Karl III. (876-887/88). 881 schenkte der karolingische Herrscher Richgardis die um 740/50 entstandene Zurzacher Mönchsgemeinschaft, die wohl nach dem Tod des Herrschers (888) an die Bodenseeabtei Reichenau fiel.

Edition: http://la.wikisource.org/w/index.php?title=Vita_Prior_Verena&oldid=21004; REINLE, A., Die Heilige Verena von Zurzach (= Ars Docta VI), Basel 1948; SENNHAUSER, A., SENNHAUSER, H.R., HIDBER, A. (Hg.), Geschichte des Fleckens Zurzach, Zurzach 2004. - Übersetzung: BUHLMANN.

[Ältere Lebensbeschreibung der heiligen Verena]
1. Die Lebensbeschreibung der seligsten Jungfrau Verena, wie sie von den Alten überliefert und von uns gestaltet worden ist, empfange der Liebhaber dieser so zum Lesen.
2. Wir kennen die Lebensbeschreibung der ruhmvollen Jungfrau gemäß dem, was überliefert ist und wollen [diese] aufschreiben; wir erbitten die Gnade des allmächtigen Gottes, damit wir unseren Brüdern und Schwestern irgendetwas Angenehmes und Nützliches in diesem Werk bieten können. Nicht nämlich zählt zu den Verdiensten das Lesen einer Lebensbeschreibung, wenn wir nicht [zuvor] uns verdienstvoll um die Lebensbeschreibung bemüht haben. Dazu sammelt nämlich der fromme Geist das Gedenken an die Heiligen, damit er durch die Beispiele dieser [Heiligen] eifriger [im Glauben] werde und den trübseligen Weg seiner Pilgerschaft [in der Welt] leichter überwinde, indem er diesen [Heiligen] folgt. Er erwägt nämlich mit dem Auge des Herzens am eifrigsten das Schicksal der Heiligen, weil sie Gott mehr gefallen, und entdeckt entflammt das, was er selbst aufmerksam tun muss.
3. Diese seligste Jungfrau stammt, wie berichtet wird, aus Theben [in Ägypten]; geboren von den ehrbarsten Eltern, wurde sie zuerst einem heiligen Bischof zur Taufe übergeben und im Glauben unterrichtet. Nachdem dieser [Bischof] später mit dem Märtyrertod gekrönt wurde - er war nämlich der Greis Cheremon -, gelangte die Jungfrau mit anderen Christen nach Unterägypten, wo damals die größte Menge an Gläubigen in den Lagern der Kaiser Diokletian [284-305] und Maximian [285/86-305] als Soldaten eingeteilt war. Zu dieser Zeit befand sich dort jene seligste thebäische Legion des Mauritius, schon [für das Martyrium] vorherbestimmt.
4. Damals wünschte die Jungfrau Christi, nach Italien zu gehen; sie verband sich [dazu] mit den anderen Gläubigen. Deshalb gelangte sie nach Mailand. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie mit ganzer Liebe den Ruhm des Martyriums begehrt; sie suchte die Orte der Märtyrer und die Kerker der Heiligen rastlos auf und unterstützte diese [Heiligen] durch Dienste der Frömmigkeit. Nach wenigen Jahren wurde sie von dem heiligen Mann Maximius aufgenommen und blieb dort.
5. Sie hörte endlich, wie die heilige Legion des seligsten Mauritius von dem ungläubigsten Kaiser Maximian für den Glauben an Christus mit Schwertern niedergemacht und wie dort in dieser Legion der heilige Viktor, der mit ihr [verwandtschaftlich] verbunden war, gleichfalls [mit der Martyrium] bekrönt wurde. Sie eilte mit Eifer über die Alpenpässe nach [St. Maurice d'] Agaune, um der Sache nachzugehen.
6. Daraufhin wohnte sie jenseits des Flusses Aare, nicht weit vom Lager Solothurn, bei einem Heiligen, der von der thebäischen Legion fliehen konnte. Fast alle Nächte und Tage war sie von Fasten und Gebeten wundersam in Anspruch genommen, sie war eifrig bei den Psalmen und hielt als Größtes ein Buch des seligen Cyprian über die Lebensweise der Jungfrauen in den Händen; darin unterrichtete dieser seligste Märtyrer sie [und betonte], dass Disziplin der Wächter der Hoffnung sei, das Band des Glaubens, der Führer auf dem Weg zum Heil, das Linderungsmittel und die Nahrung für die angeborene Tüchtigkeit. Am eifrigsten war daher die heilige Jungfrau Verena bei der Erlangung der Tugend der Keuschheit und beim Sieg unvergleichlichen Lohns. Sie schloss sich in jener Zeit in die tiefste Höhle ein, während sie sich abhärten sollte.
7. Nicht weit weg wohnte eine greise Christin. Der Stamm der Alemannen war nämlich bis dahin dem Teufel unterworfen, er hatte verschiedene Missgeburten von Bildnissen für die [heidnischen] Götter errichtet. Was die heilige Jungfrau durch Handarbeit herstellen konnte, verkaufte die besagte Greisin für genügende Nahrung und unterstützte sie. Der Herr [Gott] bewirkte auch viele Zeichen durch seine Dienerin Verena, so dass Gelähmte, die in jener Höhle, in der diese Magd Gottes sich aufhielt, sie aufsuchten, durch die Gebete jener von der Bedrohung durch den Dämon geheilt wurden; auch Blinde wurden durch die Berührung mit jener sehend. Die wachsende Zahl an Wundern bewirkte daher, dass eine Menge Alemannen zum Glauben an Christus bekehrt wurden und auf Bitten der heiligen Jungfrau von einem heiligen Priester italischer Herkunft, der um des Glaubens an Christus willen vertrieben war, getauft wurde. Daher erhob und verbreitete sich im Gebiet der Alemannen der Name Christi.
8. Es kam daher die Kunde von der Jungfrau in jenem ganzen Gebiet auf und verbreitete sich, so dass sie - als ehrwürdige Mutter der Jungfrauen auf Grund der Frömmigkeit vom ganzen Volk vorangestellt - überall Einfluss hatte. Diese Art der Frömmigkeit stellte sie allen Jungfrauen vor Augen. So herausragend und gotterfüllt die Größe ihrer Aufgabe war, so notwendig war die völlige Demut als Schutz vor gefährlichem Hochmut, der [schon] vielen vielfach aufgelauert hat, und vor dem darauf folgenden Neid, vor dem sich [die Jungfrauen] hüten sollten. In der Tat ist Stolz niemals ohne Nachkommen und Begleiter, der Teufel ist der Urheber der zwei Übel Stolz und Neid. Sie [die Jungfrauen] folgten also dem Lamm [Christus], wo immer es hinging, nicht allein wegen der Unversehrtheit der Jungfräulichkeit, sondern auch wegen der Gnade der sichersten Demut.
Und die, die sich Christus geweiht hatten, zogen sich von fleischlicher Begierde und vom Fleisch zurück, versprachen sich im Geist Gott, vollendeten ihr mit großem Lohn versehenes Werk. Und sie bemühten sich, niemanden außer ihrem Gott zu gefallen, von dem sie den Lohn für die Jungfräulichkeit erwarteten. Es ist nicht genug, dass sie Jungfrauen sind, sondern sie müssen einsichtig sein und glauben. Ähnlich steht ihnen die Keuschheit in allem voran, damit nicht das Körperliche das Gute in Verruf bringt. Was geschmückt ist, was gefällig ist, wird gleichsam dem Bräutigam [Christus] genehm sein. Und es ist nämlich nicht Recht, dass sich eine Jungfrau etwas [auf ihre Jungfräulichkeit] einbildet oder dass sie das Fleischliche und ihre Schönheit rühmt, weil kein Kampf für sie mehr zählt als der gegen das Fleisch und als der entschlossene Kampf, um den Körper zu besiegen und zu zähmen. Es ist eine geringere Schuld, sich vor dem gegebenen Gesetz der Unschuld schuldig zu machen, als die Disziplin nicht einzuhalten; eine schwerwiegendere Schuld ist es weiter, diese [Disziplin nach der (unerkannten?) Übertretung] zu geloben. Den Jungfrauen stehen endlich dadurch ein höherer Ruhm und eine größere Fürsorge zu. Weil allerdings die Jungfräulichkeit die Zierde des kirchlichen Stammes ist, die Schönheit und Verzierung, ist sie blühend vor geistlicher Gnade, ein unversehrtes und unvergängliches Werk des Lobes und der Ehre, ein Abbild Gottes, das durch Heiligkeit dem Herrn antwortet, ein hellerer Teil der Herde Christi.
9. Weil daher der ganze Erfolg der Tugenden sich immer gegen den Teufel richtet, wandte sich ein gewisser Tyrann unter der Herrschaft des gottlosen römischen Namens gegen die Jungfrau Gottes, die verschiedene Ungerechtigkeiten erlitt, und diese einige Tage lang unter öffentlicher Bewachung fesselte. Dort gab sie sich mit Psalmen und Gebeten ganz Gott hin und wurde von einem strahlenden jungen Mann - mehr kann dazu nicht gesagt werden - in der Nacht besucht und von diesem sehr getröstet, so dass sie nicht weniger von diesem wich und auf dem Pfad der Wahrheit verblieb. Als sie fragte, wer er sei, der es für würdig befunden habe, sie zu besuchen, antwortete er, er sei von Gott geschickt und heiße - unter den Märtyrern im Königreich des Lebens hinzugezählt - Mauritius. Jene hörte dies und warf sich zu Boden, um zu beten; und flehte jenen heiligen Märtyrer und durch das Licht Erleuchteten mit Bitten an, eingedenk dessen, dass er beim Herrn [Gott] [etwas] bewirken kann. Plötzlich umgab den heiligen Märtyrer eine Menge von in Purpur gekleideter und sehr strahlender Jünglinge, und somit entschwand er den Augen der heiligen Jungfrau.
10. In dieser Nacht erkrankte der Tyrann sehr stark an Fieber und schickte - schon kurz vor dem Tod stehend - eilends zur Dienerin Gottes, damit sie mit größter Ehre zu ihm geholt werde. Nachdem sie ein Gebet gesprochen hatte, wich jenes Fieber aus dem Körper des Tyrannen. Und so wurde sie mit dem Lob aller zum Ort der Jungfrauen zurückgeschickt.
11. An diesem Tag, als der Vorrat an Brot schwand und als die, die mit jener [Verena] dort wohnten, sehr beschwerlich darbten, zweifelte sie selbst nicht daran, dass die Güte des Herrn ihnen bei den Notwendigkeiten helfen würde; es wird berichtet, wie die Konverse so zum Herrn gesprochen hat: "Herr, der du gibst die Speise deinem Geschöpf in günstiger Zeit, du siehst, was deinen Mägden widerfährt; an dir liegt es, unser Leben zu bewahren." Kaum hatte sie die Worte gesprochen, siehe, da wurden 11 volle Säcke besten Mehls an die Tür der Zelle jener gebracht, wobei unsicher ist, welcher Mensch diese dort hingestellt hatte. Alle Konversen waren über mehrere Jahre zum Lob Gottes hinreichend von jenem Mehl gesättigt; auf wunderbare Weise vermehrte sich das Mehl und sättigte sie [die Jungfrauen] zur Gänze.
12. Und als schon die Zeit des Lohns und des Endes ihrer Arbeit kam und sie in dem kranken Körper einige Tage auf einem Bett darniederlag, hielt sie nichtsdestoweniger die Strenge ihres tapfersten Propstes dort; sie feierte die Nachtwachen und Gebete, insoweit sie die Krankheit überwinden konnte, und war durch ihre unüberwindbarste Seele mit Gott verbunden. Und als der Tag des Todes kam, erschien die Jungfrau und Gottesmutter Maria mit den heiligen Jungfrauen, an der Spitze der unvergleichbaren Chöre, in der Zelle, wo die Jungfrau [Verena] lag. Die frömmste Verena wollte lieber mit ganzem Verlangen [ihr] entgegengehen und gleich unter diesen [himmlischen Jungfrauen] bleiben; sie sagte: "Was ist das für ein Lohn, dass du, die Mutter meines Herrn und Gottes, es würdig hält, zu mir, deine geringste Magd, zu kommen?" Dem entgegnete die Gottesmutter Maria: "Deine Unversehrtheit, die treu bis jetzt dem Herrn gedient hat, wird belohnt; du magst dich fröhlich freuen, diese [Jungfrauen] in die Ewigkeit zu begleiten." So wurde ihre heilige Seele vom Körper gelöst. Die Zelle selbst wurde von einem unermesslichen Geruch erfüllt. Die so Umsorgte offenbarte, durch viele Wunder berühmt, daraufhin den heiligen und gottesfürchtigen Jungfrauen an dem Ort, wo sie bestattet worden war und der Zurzach genannt wird, [nun] in der Gegenwart Gottes zu leben.
13. Was du vorangehend über diese berühmteste Tochter gelesen hast, befolge aufs Eifrigste, damit du über den Verdienst deines Gelübdes und deiner Keuschheit gleich der seligsten Verena die Krone des ewigen Lohns erlangen kannst. Befolge die Lebensbeschreibung von dieser nicht nur in Worten, sondern auch in den Taten sorgfältig, damit du so lebst. Du wirst dann nämlich jene als Fürbitterin für dich haben, wenn du den Spuren jener folgst und die Nachahmenswerte immer vor Augen hast, damit du, wie sehr du aus adligem Geschlecht bist, so sehr an Heiligkeit gewinnen wirst.

Bearbeiter: Michael Buhlmann

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