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Reichenau

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Eine kurze Geschichte des Klosters Reichenau

Das um 724 gegründete Kloster Reichenau wurde unter den karolingischen Kaisern und Königen Reichsabtei. Überhaupt war das 9. Jahrhundert eine erste Blütezeit des Klosters, der in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts unter dem Reformmönch Bern (1008-1048) eine zweite folgte. Im Einzelnen geht die Klostergründung auf den in irofränkischer Tradition stehenden Abtbischof Pirmin (†v.755) zurück, der wahrscheinlich mit Unterstützung des karolingischen Hausmeiers Karl Martell (714-741) und der alemannischen Herzogsfamilie auf der Bodenseeinsel Sindlezzeisauua eine Mönchsgermeinschaft stiftete. Auf Grund von bald einsetzenden politischen Spannungen musste Pirmin die Reichenau - lateinisch ist der Name im frühen Mittelalter als Augia, Augia maior und Augia dives überliefert - im Jahr 727 verlassen, trotzdem hielt sich das Kloster mit Unterstützung alemannischer Adelsfamilien. Die Einbeziehung Alemanniens in das fränkisch-karolingische Reich (746) machte aus der Reichenau in der Folgezeit ein karolingisches Reichskloster, das - mit freier Abtswahl, Immunität und Königsschutz begabt - über umfangreichen Grundbesitz verfügte und in dem sich im 9. Jahrhundert die "Kultur der Abtei Reichenau" entfaltete (Bibliothek und Skriptorium, Klosterschule, Gebetsverbrüderungen, Kirchen- und Klosterbauten). Die damaligen Äbte waren in Politik und Reichsverwaltung engagiert, der Konvent umfasste wahrscheinlich über 100 Mönche, die mönchische vita communis folgte nach der Zeit einer wohl irofränkischen Mischregel nun der Benediktinerregel. Abt Hatto III. (888-913) errichtete 898 eine dem heiligen Georg geweihte Kirche und Niederlassung in (Reichenau-) Oberzell, die neben das Kloster in Mittelzell und das vor 799 gegründete Niederzell trat. Hatto war zudem Mainzer Erzbischof (891-913) und leitete die geistlichen Gemeinschaften in Ellwangen, Lorsch und Weißenburg.

Für die 2. Hälfte des 10. und die 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts ist eine weitere Vergrößerung des Klosterbesitzes feststellbar. Die Abtei war eingebunden in die ottonisch-salische Reichskirche, wie u.a. ein Verzeichnis von Panzerreitern (981) aus der Zeit Kaiser Ottos II. (973-983) oder die durch Kaiser Otto III. (984-1002) privilegierte versuchte Gründung eines Marktes in Allensbach zeigen. Auch öffnete sich das Adelskloster Reichenau den damaligen von Gorze und Cluny ausgehenden benediktinischen Reformbewegungen. Die Wende des Investiturstreits (1075-1122) machte aus der einstmals so dominierenden Reichsabtei allerdings eine nachrangige Mönchsgemeinschaft, der durch die Ministerialität des Klosters und auf Grund einer schlechten Verwaltung zunehmend und vielfältig Besitz und Rechte entzogen wurden. Konkurrenz bekam die Reichenau auch in Form der neuen benediktinischen Reformklöster der hochmittelalterlichen Kirchenreform. Trotz allem behauptete sich das Bodenseekloster insofern, dass die seit jeher bestehenden Verbindungen zur benachbarten Abtei St. Gallen wieder intensiviert wurden (Gebetsverbrüderung 1145) oder dass der Reichenauer Abt Diethelm von Krenkingen (1169-1206) auch als Bischof von Konstanz (1189-1206) eine wichtige Rolle in der Reichspolitik, z.B. während des deutschen Thronstreits (1198-1208), spielte.

Im späteren Mittelalter trat der wirtschaftliche und geistig-religiöse Niedergang der adligen Mönchsgemeinschaft vollends zutage, ein Klosterbrand von 1235 verstärkte diese Entwicklung, die auch zur Aufgabe der vita communis, des "gemeinsamen Lebens" der Mönche, führte. Letztere rekrutierten sich fast ausschließlich aus Hochadelsfamilien, doch deren gesellschaftliche Stellung zwischen Fürsten und Landesherren einerseits und Niederadel (Ministerialität) andererseits wurde zunehmend prekärer, so dass von Seiten des südwestdeutschen Hochadels die Unterstützung für das Kloster weitgehend fehlte. So ging der Ausverkauf Reichenauer Güter und Rechte weiter, obwohl es z.B. unter Abt Diethelm von Kastel (1306-1343) durchaus gegenläufige Entwicklungen gab (versuchte Wiederherstellung der vita communis, Marktrecht für Steckborn 1313, Inkorporation der Ulmer Pfarrkirche 1325/27). Ein Tiefpunkt - auch in geistlich-religiöser Hinsicht - war zweifelsohne erreicht, als es im Jahr 1402 nur zwei nichtpriesterliche Konventualen auf der Reichenau gab und der Neffe Graf Hans von Fürstenberg den Onkel Graf Friedrich von Zollern zum Abt wählte (1402-1427). Die Absetzung Friedrichs von Zollern im Jahr 1427 machte zumindest für eine gewisse Zeit den Weg für Reformen im Kloster frei. Unter Abt Friedrich von Wartenberg-Wildenstein (1427-1453) wurde die Reichenau auch für niederadlige Mönche zugänglich, das bisher aufrecht erhaltene Privileg des Hochadels auf die Besetzung der klösterlichen Pfründen erlosch damit. Infolgedessen stieg die Zahl der Konventualen wieder etwas an, das Kloster gesundete wirtschaftlich, was auch an verschiedenen Baumaßnahmen und der Erneuerung der Bibliothek ablesbar ist. Seit den 1460er-Jahren hielt indes wieder Misswirtschaft Einzug in das Kloster, während die habsburgischen Herzöge und Könige als Schutzherren spätestens nach dem Schwabenkrieg (1499) die Reichenau stärker ihrer Herrschaft eingliedern konnten. Hinzu kamen seit 1508 Streitigkeiten mit dem Konstanzer Bischof, der ebenfalls seinen Einfluss auf die Abtei zu steigern wusste. Nach einem Intermezzo mit bürgerlichen Mönchen aus Augsburg und Zwiefalten (ab 1509 und ab 1516) endete die Selbstständigkeit der Reichenau mit vielen Streitigkeiten unter Abt Markus von Knöringen (1508-1512, 1521-1540). Die Abtei wurde im Jahr 1540 als Priorat dem Konstanzer Bistum inkorporiert. 1803 erfolgte die Säkularisation.

Die "Kultur der Abtei Reichenau" offenbart sich bis heute auf vielfältige Weise. Ein Repräsentant Reichenauer Kultur war Walahfrid Strabo, der Reichenauer Mönch und Abt (838-849). Geboren 808/09 in Schwaben, war Walahfrid mindestens ab 822 Mönch auf der Reichenau und genoss hier eine hervorragende Erziehung, die er seit 827 mit Studien bei Hrabanus Maurus (†856) in Fulda vervollständigte. 829 wurde er Erzieher Karls des Kahlen, des Sohnes Kaiser Ludwigs des Frommen (814-840), 838 durch Letzteren als Abt der Reichenau eingesetzt. Walahfrid ist bekannt durch sein weitgespanntes literarisches Oeuvre. Seine Dichtungen, u.a. eine in Hexametern verfasste Nachdichtung der Vision des Reichenauer Mönchs Wetti (Visio Wettini, 826/27), sind kunstvoll, manchmal episch, mitunter schwierig. Neben Hymnen, Epigrammen, Briefgedichten u.a. ist der Hortulus des Walahfrid Strabo zu nennen, den der Dichter in seiner Zeit als Abt über den Reichenauer Klostergarten schrieb. Der Gelehrte und Lehrer verfasste noch Kommentare zum Pentateuch und zu den Psalmen, Predigten, ein Werk zum christlichen Gottesdienst sowie eine Briefmustersammlung. Walahfrid überarbeitete nach älteren Quellen die Gallusvita (über den heiligen Mönch und Einsiedler Gallus, †ca.650), auch eine Vita des St. Galler Abtes Otmar (ca.720-759) stammt von ihm und zeigt die damals engen Beziehungen zwischen den Klöstern St. Gallen und Reichenau auf.

Aus dem frühen Mittelalter, aus der Zeit der "karolingischen Renaissance" ist von der Reichenau - neben dem ältesten Textzeugnis für die benediktinische Klosterregel (ca.817/21) - der berühmte St. Galler Klosterplan (ca.827/30) überliefert. Letzerer stellt zeichnerisch den Idealplan eines Klosters dar und ist wohl im Gefolge der von Benedikt von Aniane (†821) ausgehenden Reformmaßnahmen entstanden als eine "Zeichnung gewordene Benediktinerregel" eines Klosters als Ort für Arbeit und Gebet. Daneben brachte das 9. Jahrhundert auch für die Reichenauer Heilgenverehrung neue Impulse. Bischof Radolf von Verona, der Gründer von Radolfzell, soll Reliquien des heiligen Evangelisten Markus zur Bodemseeinsel gebracht haben (830). Der Reichenauer Abt Hatto III. erwarb für Reichenau-Oberzell Reliquien des Erzmärtyrers Georg. Weiter sind die herausragenden Kodizes der Reichenauer Schreib- und Malschule (970-1030) zu nennen, insgesamt rund 50 illustrierte liturgische Handschriften wie der Trierer Egbert-Codex, mit Unterstützung der Reichenauer Mönche Kerald und Heribert um 985/90 angefertigt, das Aachener Liuthar-Evangeliar mit dem "Krönungsbild" Kaiser Ottos III. (ca.995/1000, sakrales Königtum und Christomimese der ottonisch-salischen Herrscher), die Bamberger Apokalypse (n.1000) oder das berühmte Perikopenbuch (Evangelistar) Kaiser Heinrichs II. (n.1007). In Totengedenken und Gebetsverbrüderung waren die Reichenauer Mönche verbunden mit anderen geistlichen Kommunitäten (Reichenauer Verbrüderungsbuch und Totenbuch), die memoria, das Gebetsgedenken, dienten in einer Religion der Erinnerung wie der christlichen dazu, Verstorbene um ihres Seelenheils willen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, mithin eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten zu schaffen.

Die Reichenau blieb bis ins hohe Mittelalter ein Ort der Gelehrsamkeit, wie die lateinische Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts zeigt. Hermann von Reichenau (†1054), wegen spastischer Lähmung Hermannus Contractus genannt, kam mit sieben Jahren ins Kloster Reichenau (Oblation, puer oblatus), wo er als Mönch, Priester, Gelehrter, Dichter und Geschichtsschreiber wirkte. Hermann verfasste nach Vorarbeiten eine von Christi Geburt bis zum Jahr 1054 reichende Weltchronik und beschäftigte sich mit Chronologie und Kalenderrechnung. Sein Schüler Berthold von Reichenau (†1088) schrieb eine Vita Hermanns und eine Chronik, die inhaltlich das Geschichtswerk seines Lehrers bis 1066/79/80 fortsetzt. In die Zeit des ausgehenden Mittelalters und des Humanismus gehört die kurz nach 1500 niedergeschriebene Reichenauer Klosterchronik des Mönchs Gallus Öhem (†n.1511).

Vorromanische Architektur lässt sich anhand der Georgskirche in Reichenau-Oberzell beobachten. Der Reichenauer Abt und Mainzer Erzbischof Hatto (III., 888-913; I., 891-913) ließ hier eine Klosterzelle und eine Kirche zu Ehren des heiligen Georg errichten. Die dreischiffige Kirche mit den niedrigen Seitenschiffen und dem rechteckigen, am Turm hochgezogenen Chor, die wir vom Aufbau her als das Bauwerk aus der Zeit Hattos ansehen können, wurde im beginnenden 12. Jahrhundert nach Westen hin erweitert durch eine Vor- oder Eingangshalle, über der sich eine Michaelskapelle befindet. Die Krypta unterhalb des Chors ist eine quadratische Halle; vier Säulen umrahmen hier einen Altar. Im Zentrum der Wandmalereien des 10. Jahrhunderts im Langhaus der Georgskirche stehen betitelte Szenen aus dem Leben Jesu, die den Evangelien entnommen sind; Jesus wird dargestellt als der Heil bringende Christus, übernatürlich und doch in nächster Nähe zu den Menschen.

Romanischer Baustil löste im Kirchenbau (zuerst am Oberrhein) seit Beginn des 11. Jahrhunderts die Vorromanik ab. Zur Romanik gehören u.a. das Deckengewölbe aus Stein, die Joche des Langschiffs, Obergadenfenster, rundbogige Fenster und Türen, Mehrturmanlagen. Romanisches findet sich bei der 799 gegründeten Kirche St. Peter und Paul in Reichenau-Unterzell, das ursprüngliche Gotteshaus wurde nach zwei Bränden zu Beginn des 12. Jahrhunderts durch die noch heute bestehende dreischiffige Säulenbasilika (mit Doppelturmanlage) ersetzt, im 1104 fertiggestellten Chor der Kirche thront in einem Wandbild der Reichenauer Malschule das überlebensgroße Bild des Christus Pantokrator.

Das Münster St. Markus in Reichenau-Mittelzell verbindet verschiedene Baustile. Die drei Seitenschiffe, das West- und das Ostquerhaus sind romanisch - die Markusbasilika wurde unter Abt Bern erbaut -, ein Turm schließt das Gotteshaus nach Westen hin ab. Der Ostabschluss ist ein gotischer Chor aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Zur gotischen Baukunst lassen sich dann stellen: die Tiefengliederung der Kirchenwand, das Maßwerk, Netz- und Sterngewölbe, eine reich gegliederte Außenfassade, die Hallenkirche, die Doppeltürme und die Einturmfront.

Regesten und Quellen

Bearbeiter: Michael Buhlmann

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