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St. Georgener Handschriften

in der Badischen Landesbibiliothek Karlsruhe

Codex St. Georgen Nr. 81

Die Artes liberales stehen für den Bildungskanon gerade des früheren Mittelalters. Die aus dem griechisch-römischen Bildungssystem übernommenen Artes gliederten sich in das sprachlich orientierte Trivium ("Dreiweg") und das Quadrivium mit seinen mathematischen Teildisziplinen ("Vierweg"). Im Verlauf des Mittelalters wurden die Artes auf verschiedene Weise vermittelt. Angefangen bei Boethius (†524) und der "Hochzeit des Merkur und der Philologie" des Martianus Capella (4./5. Jahrhundert), zeigten sich die Artes seit der Karolingerzeit (8./9. Jahrhundert) als ein geschlossenes Bildungsprogramm, das über sieben Stufen zur Erkenntnis von Wahrheit und Weisheit führen sollte. Im späteren Mittelalter war es auch die Darstellungsweise der Artes-liberales-Zyklen, die als "zyklische Formationen des Wissens" Informationen über die Artes bebildert und volkssprachlich transportierten.

Im St. Georgener Codex Nr. 81 liegt nun ein solcher Artes-liberales-Text-Bild-Zyklus vor. Die 74 Blätter umfassende Papierhandschrift, ca. 21,2 cm x 14,7 cm groß, ist zwischen 1420 und 1440 entstanden und stammt - der alemannischen Mundart zufolge - aus dem südwestdeutschen Raum. Von einem Schreiber wurde ein "Hausbuch mit astronomisch-medizinischen Texten" niedergeschrieben, ein am Beginn des Codex stehender Kalender (fol. 2r) später durch Einträge zur gesunden Lebensführung ergänzt. Die Handschrift enthält eine Vielzahl von Rubrizierungen (bei Überschriften, Initialen usw.), dem Text sind zahlreiche Illustrationen beigegeben.

Der gereimte, in Strophen zu 10 Versen unterteilte Artes-liberales-Zyklus ist auf Folio 42 verso bis 46 recto zu finden. In ihm werden die Fächer der Artes nacheinander vor- und mit diesen die sie repräsentierenden Lehrer und Gelehrten Priscian (Grammatik), Aristoteles (Logik), Marcus Tullius Cicero (Rhetorik), Boethius (Musik), Algus (abgeleitet von Algorismus und dem arabischen Mathematiker al-Hwarizmi [9. Jahrhundert], Arithmetik), Euklid (Geometrie) und Ptolemäus (Astronomie) auch bildlich im Gespräch mit verschiedenen Personen dargestellt. Der Artes-liberales-Zyklus verweist indes nicht auf die Wissenschaften, die Weisen und Lehrmeister legen ihre Disziplinen höffelichen aus, beziehen sie auf den Minnedienst, auf den werbenden Umgang des Mannes mit der auserwählten Frau. Die Artes werden so zur Ars amatoria, zur Ars amandi, zur Liebeskunst, die über den Wissenschaften steht, sie überbietet. Der Text ist parodistisch, erotisch und mehrdeutig-eindeutig, wenn etwa im Abschnitt zur Musik die lust noten als "liebliche Noten" oder als "lieblich hin und her bewegen" interpretierbar sind oder der vmbfang im Astronomie-Teil auch den Geschlechtsakt mit der Geliebten bedeuten kann.

Insofern steht der St. Georgener Artes-liberales-Zyklus in literarischer Verbindung zu den derb-zotigen spätmittelalterlichen Fastnachtsspielen, die die (gelehrte) Welt auf den Kopf stellen, aber doch Teil der Welt bleiben. Wie es neben der Fastenzeit den Karneval gab, so enthält also der St. Georgener Codex neben wissenschaftlichen Texten deren Parodie, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und unvermischt neben die Gelehrsamkeit tritt.

Literatur, Abkürzungen: Buhlmann, M., Die mittelalterlichen Handschriften des Villinger Klosters St. Georgen (= Vertex Alemanniae, H.27), St. Georgen 2006, S.51-54; r = recto; Stolz, M., Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter (= Bibliotheca Germanica, Bd.47/1-2), Tübingen-Basel 2004; v = verso.

Bearbeiter: Michael Buhlmann