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Kompendium
Mittelalter

Diplomatik/Urkundenlehre

Diplomatik oder Urkundenlehre nennt man die wissenschaftlich-historische Methode von der Analyse der (mittelalterlichen) Urkunden. Eine Urkunde ist ein in gewissen Mustern abgefasstes Dokument, das beglaubigend und bindend einen Rechtsakt wiedergibt. Im Rahmen der Geschichtswissenschaft beschäftigt sich eine Reihe von historischen Hilfswissenschaften mit den mittelalterlichen Urkunden: a) Diplomatik (= Urkundenlehre, s.o.) als kritische Wissenschaft von den Urkunden mit ihrer Urkundenkritik (insbesondere Echtheitskritik) und äußerer (äußere Urkundenmerkmale) und innerer Kritik (inhaltliche Aussagen); b) (lateinische) Paläographie als Lehre von den alten Schriften einschließlich Schriftentwicklung und Schreibmaterialkunde; c) Sphragistik (= Siegelkunde) als Lehre von der Echtheit und Gestalt der Siegel; d) Chronologie (= Kalenderrechnung) als Lehre von der Zeitmessung, -rechnung und Datierung (Tagesdatum, Jahreszählungen).

Klassifizierung der Urkunden: a) nach dem der Urkunde zugrunde liegenden Rechtsakt (Beweisurkunde [notitia, placitum; fixiert einen schon erfolgten Rechtsakt], Verfügungsurkunde [= dispositive Urkunde, carta; setzt Recht]); b) nach dem erstrebten Zweck ([feierliches] Diplom [Privileg, Schenkungs-, Belehnungsurkunde, politischer Vertrag; zeitlich unbegrenzt], Mandat [schlichte Geschäftsurkunde, Auftrag, Vollmacht]); c) nach dem Aussteller (Königsurkunden [Diplome], Papsturkunden [Privilegien, Briefe, Bullen, Breven], "Privaturkunden").

Ausfertigung von Urkunden: In der Kanzlei des Ausstellers oder Empfängers in Anwesenheit von Aussteller, Empfänger, Kanzleipersonal (Schreiber, Diktator, Rekognoszent [verantwortlich für die Abfassung]) (und der Zeugen). Kanzleipersonal: referendarii (Merowingerzeit), cappelani, notarii; Kanzleileiter: cancellarius (= Kanzler). Schreiber meist namentlich nicht bekannt (-> wissenschaftliche Namensgebung: Name des Schreibers = Name des Kanzlers + Großbuchstabe). Entstehungsvorgang: Antrag/Bitte des Empfängers (= Petitio); Intervention von Fürsprechern; Vollzug des Rechtsgeschäfts; Ausfertigung der Urkunde auf Befehl des Ausstellers (z.B. unter Verwendung von Vorurkunden bei Bestätigungen); Urkundenvollziehung (-beglaubigung) durch Siegel bzw. Unterschrift (Merowingerzeit) und (evtl.) Vollziehungsstrich im Monogramm; Aushändigung der Urkunde.

Urkundenüberlieferung

formal als/in:

echt oder als Fälschung:

modern als/in:

Urkundenaussehen

Urkundenmaterial als Beschreibstoffe waren: Papyrus (Merowingerzeit, bei Papsturkunden bis ins 12. Jahrhundert), Pergament (abgeriebene und neu beschriebene Pergamente heißen Palimpseste), Papier (seit dem späten Mittelalter). Schreibwerkzeuge waren vornehmlich Vogelfedern, Schreibstoffe Tinten verschiedener Farben (hauptsächlich schwarz, dunkelbraun).

Aufgeschrieben wurde Schrift, Urkundenschrift. Man teilt die (lateinische) Buchstabenschrift grob ein in: a) Buchschrift oder Kursive (= Schreibschrift) oder: b) Majuskelschrift (Großbuchstaben im 2-Linienschema) oder Minuskelschrift (Buchstaben mit Ober- und Unterlängen im 4-Linienschema). An Schriften fanden im Mittelalter Verwendung:

Hinsichtlich der mittelalterlichen Urkundenschrift ist noch zu beachten: Die erste Zeile, Signumzeile und evtl. Rekognitionszeile sind häufig bei Herrscherurkunden in Auszeichnungsschrift (= verzierte "Gitterschrift", Hochschrift) abgefasst. Minuskelschrift liegt für den restlichen Urkundentext vor. Verwendung finden Kürzungen von häufig gebrauchten Worten durch Zeichen (Beispiele: "~" = ur, "9" = us; "q" = quod, "8" = pro [Suspensionskürzung = Weglassen des Wortendes]; "dms" = dominus [Kontraktionskürzung = Auslassung von Buchstaben]). Verwendet wird auch Kurzschrift, u.a. tironische Noten in der Merowingerzeit und später, einzelne Kurzschriftzeichen wie ">" für "et" sowie - im frühen Mittelalter - die (tironischen) Rekognitionszeichen des für die Urkundenausstellung zuständigen Notars oder Kanzlers.

Mittelalterliche Urkunden sind versehen mit Zeichen und Siegeln als "Herolde der Macht" des Urkundenausstellers: a) Chrismon-Zeichen (C.) (= "Im Namen Christi") am Beginn der ersten Urkundenzeile als symbolische Invokation; b) Monogramm (= Zeichen des Ausstellers [König], zusammengefügt aus den Buchstaben seines Namens) mit oder ohne Vollziehungsstrich ((MF.) [= Monogramma firmatum] bzw. (M.); der Vollziehungsstrich ist unerheblich für die Rechtskraft der Urkunde); c) (Unterschrift bzw.) Siegel zur Beglaubigung der Urkunde (und als Erkennungszeichen). Das Siegel ist der Abdruck einer geprägten oder geschnittenen Form (= Typar, Petschaft, Stempel), es besteht aus (gefärbtem) Wachs oder Metall (Blei, Gold, (vergoldetes) Silber; Metallsiegel = Bulle). Demgemäß unterscheiden wir: a) Wachssiegel (SI.) des früheren Mittelalters, auf die Urkunde gedrückt und mit einem Kreuzschnitt befestigt; b) eingehängte Siegel des hohen, Hängesiegel (SP.) an Hanf- und Seidenschnüren des späten Mittelalters; c) Metallsiegel, d.h.: Blei- oder Goldbullen (B.).

Urkundenaufbau

Aussehen, Aufbau und Funktion einer mittelalterlichen Urkunde korrespondieren miteinander. Demgemäß gibt es nicht das Schema einer mittelalterlichen Urkunde. Vielmehr können verwendete inhaltliche Elemente einer Urkunde und deren Abfolge durchaus verschieden sein, je nachdem, ob es sich um Königsurkunden (Diplome), Papstprivilegien oder "Privaturkunden" handelt.

Aufbau mittelalterlicher Königsurkunden

Zu den Papsturkunden des Mittelalters gehören: a) Privilegien (feierliche Privilegien, einfache Privilegien des hohen Mittelalters); b) Bullen (als Mischung von Privileg und litterae des späten Mittelalters); c) Litterae cum (filo) serico, litterae cum filo canapis (als litterae apostolicae, d.h. Briefe mit dem Siegel an Seiden- bzw. Hanffäden); d) Breven (als einfache Papsturkunden des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts). Wegen des großen Bezugs zu St. Georgen gehen wir noch auf das Schema hochmittelalterlicher feierlicher Papstprivilegien ein. An päpstlichen Urkundenzeichen und -symbolen treten hier auf: Initiale, Hochschrift und Salutatio mit in perpetuum ("auf ewig") am Urkundenanfang, das dreifache Amen am Ende des Kontexts, Rota (R.), Unterschrift des Papstes und Monogramm (M.) sowie die Unterschriften der Kardinäle (Kardinalbischöfe, -priester, -diakone) im Eschatokoll des Privilegs, dann die anhängende, das Privileg beglaubigende Bleibulle (B.):

Aufbau hochmittelalterlicher Papstprivilegien

Urkundensiegel

Eingeteilt werden die Siegel gemäß einer primären und sekundären Typologie: a) nach den Urkundenausstellern: Könige, geistliche und weltliche Fürsten, Grafen, Ministeriale, geistliche Dignitäre, Städte, Zünfte, Universitäten, Bürger; gemeinschaftliche Siegel; b) nach der Siegelform: Rund-, Oval-, Schildsiegel u.a.m.; c) nach dem Siegelstoff: Wachs-, Blei-, Silber- und Goldsiegel und damit zusammenhängend nach den verschiedenen Befestigungsarten von Siegeln an Urkunden (sigillum impressum (SI.): Wachssiegel durch Kreuzschnitt auf dem Pergament befestigt, sigillum pendens (SP.): Siegel an Urkunde hängend mittels eines Pergamentstreifens, einer Hanf- oder Seidenschnur, bulla (B.): Blei-, Silber- oder Goldbulle als Metallsiegel an die Urkunde gehängt; anhängende Siegel sind an der Plica, dem unteren Pergamentumschlag befestigt); d) nach dem Siegelbild: Bildsiegel (mit und ohne Namen des Inhabers, symbolische, architektonische, religiöse Bilder enthaltend), Porträtsiegel (Kopf [Gemmensiegel], Brustbild, Standbildsiegel [stehend, sitzend, auf den Knien; Thronsiegel], Reitersiegel; jeweils mit und ohne Wappen), Wappensiegel (mit Wappenbildern oder -helmen); e) nach der Verwendung: große Siegel, Geschäftssiegel (ad causas, ad missivas), Sekretsiegel (= Gegen-, Rücksiegel). Die Siegelgröße schwankt zwischen 5 und 175 mm, wobei die Größe der Wachssiegel während des Mittelalters zunahm und Metallbullen einen Durchmesser von 12 bis 43 mm hatten.

Literatur: BRANDT, A. VON, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (= Urban Tb 33), Stuttgart-Berlin-Köln 15.Aufl. 1998; BRESSLAU, H., Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, 2 Bde. u. 1 Registerbd., 2.Aufl. 1912-1915, 1931, Ndr Berlin 1969; BUHLMANN, M., Die Urkunde Papst Alexanders III. für das Kloster St. Georgen (= VA 5), St. Georgen 2003; BUHLMANN, M., Die Päpste in ihren Beziehungen zum mittelalterlichen Kloster St. Georgen (= Quellen zur mittelalterlichen Geschichte St. Georgens, Teil IV = VA 8), St. Georgen 2004; CAPPELLI, A., Lexicon abbreviaturarum, Mailand 6.Aufl. 1961, Ndr 1979; EWALD, W., Siegelkunde, München 1914, Ndr 1975; FÖRSTER, H., Abriß der lateinischen Paläographie, Stuttgart 3.Aufl. 1963, Ndr 1981; FRENZ, T., Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit (= HGE 2), Stuttgart 1986; GOETZ, H.-W., Proseminar Geschichte: Mittelalter (= UTB 1719), Stuttgart 1993; ILGEN, THEODOR, Sphragistik, München 7.Aufl. 1912; RÜCK, P. (Hg.), Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik (= Historische Hilfswissenschaften, Bd.3), Sigmaringen 1996; SANTIFALLER, L., Urkundenforschung. Methoden, Ziele, Ergebnisse, Köln-Wien 4.Aufl. 1986

Bearbeiter: Michael Buhlmann