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Kompendium
Mittelalter

Genealogie

Genealogie ist zunächst einmal eine historische Hilfswissenschaft, die sich primär der Erforschung von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen (mittelalterlichen) Menschen widmet. Genealogie bezieht sich also auf Individuen, Familien und (Verwandtschafts-) Gruppen innerhalb geschichtlicher Gesellschaften und Kulturen, hier der mittelalterlich-christlichen Kultur des "abendländischen" Europa. Individuen definierten sich hier (und anderswo) u.a. über ihren Namen (Namenvariation, Nachbenennung und Leitnamen, Einnamigkeit und Beinamen), (Kern-) Familien gruppierten sich um Mann und Frau als Fortpflanzungsgemeinschaft, wobei sich die zwei biologischen Geschlechter durch die (zunehmend christlich überformte) Ehe oder das Konkubinat miteinander verbanden. "Sippen" ("Clans") heißen kognatisch-"horizontal" organisierte Personenverbände meist des frühen Mittelalters auf der Grundlage von Blutsverwandtschaft (der zur Verwandtschaftsgruppe gehörenden Frauen und Männer). Ab dem hohen Mittelalter dominierten agnatische Familienstrukturen, die als Geschlechter "vertikal" auf die Abfolge von durch männliche Familienangehörige (Vater-Sohn) vermittelten Generationen abhoben, ohne dass kognatisch orientierte Denkweisen damit verschwanden. Dabei ist die genealogische Forschung wie die Geschichtswissenschaft und andere historische Hilfswissenschaften abhängig von dem aus dem Mittelalter Überlieferten. Gerade für das frühe Mittelalter erschweren etwa die geringe Anzahl von (schriftlichen) Geschichtsquellen oder die Einnamigkeit der darin auftretenden Personen genealogische Untersuchungen. Über das ganze Mittelalter hinweg ist zudem die genealogisch nutzbare Überlieferung ungleich verteilt: über die Oberschicht und die Mächtigen (potentes) erfahren wir mehr als über die Armen (pauperes). Ergebnis genealogischer Arbeit sind in jedem Fall die Deszendenz darstellenden (agnatischen) Stammtafeln, die auch hypothetische Konstruktionen enthalten können.

Verwandtschaft hatte in der europäischen Kultur des Mittelalters biologische (Abkunft von einem "Spitzenahn" o.ä.) und rechtliche Bedeutung (Erbengemeinschaft). Neben der biologischen Verwandtschaft gab es auch die der geistlichen Patenschaft, die heilige Familie der Bibel war ein Modell für Adelsfamilien (Wurzel Jesse-Stammbäume). Verwandtschaft war auch das Vorbild für die Organisation nichtverwandtschaftlicher Gruppen; hier ist etwa an die "Brüder" (fratres) von Mönchs- oder die "Schwestern" (sorores) von Frauengemeinschaften zu denken; für die Mitglieder solcher geistlicher Gemeinschaften wurde eine "neue" Verwandtschaft (etwa unter einem pater ["Vater"] als Abt o.ä.) geschaffen. Die mittelalterliche Kirche wurde so zu einem Abbild von Verwandtschaft; aber sie war auch real Verwandtschaft, etwa wenn es (Adels-) Familien gelang, wichtige Positionen und Ämter innerhalb der Kirche zu erlangen (Standes- und Rangbewusstsein).

Genealogie im Mittelalter war schließlich Teil der mittelalterlichen Kultur der Erinnerung, die sich auch und bevorzugt um memoria (Totengedenken, Gebetsgedächntis) drehte. Der Sorge um das Seelenheil der Leben und der Toten entsprach dabei das Aneinander-Denken und Füreinander-Handeln, das die Verstorbenen im Sinne eines Sich-Erinnerns der Nachwelt einzubeziehen wusste, ja beim und durch das Erinnern die Toten vergegenwärtigte. Dies geschah beim Gebetsgedenken, in liturgischen Handlungen innerhalb von geistlich-religiösen Frauen- und Männergemeinschaften (Klöster, Stifte).

Mit der Genealogie verwoben, ist Prosopografie die Erforschung von bestimmten mittelalterlichen Personengruppen (z.B. Amtsträgern) und daher eher ein methodischer Ansatz der Geschichtsforschung.

Literatur: BRANDT, A. VON, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (= Urban Tb 33), Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 8.Aufl. o.J.; GOETZ, H.-W., Proseminar Geschichte: Mittelalter (= UTB 1719), Stuttgart 1993; FORST DE BATTAGLIA, O., Wissenschaftliche Genealogie. Eine Einführung in ihre wichtigsten Grundprobleme, Bern 1948; HENNING, E., RIBBE, W. (Hg.), Handbuch der Genealogie, Neustadt a.d. Aisch 1972

Bearbeiter: Michael Buhlmann